Mai 1874 – Im neuen Haus

Der Einzug ist für Wagner eine bedeutsame Zäsur – auch im Hinblick auf seine Beziehung zu Cosima. Endlich ist der repräsentative Rahmen gefunden, die (groß-) bürgerliche „Traulichkeit“ nach der „merkwürdigen Zeit (…) in welcher wir Tribschen wählten – alles ein Auf- und Niederwallen, ein Krampf“. Ein „furchtbarer Wille“ haben gewaltet, der die Liebe der beiden „nicht zergrämelt und zermemelt sehen wollte“ und deshalb „durch grauenhafte Wege (…) zur Vereinigung“ geführt hat. Wagner beklagt, dass er nicht 15 Jahre jünger ist (er steht kurz vor seinem 61. Geburtstag). Und fügt hinzu: „Wie ich damals die Kapellmeisterstelle in Dresden aufgab, hätte ich Cosima als junges Mädchen von 20 Jahren finden sollen“. Zugleich erlebt er den Augenblick in ‚mythologischen Dimensionen‘: Der „alte Mann“, der damit beschäftig ist, das mit Eisen verunreinigte Wasser abzupumpen, erscheint ihm wie die alte Magd aus der Odyssee, die noch in der Nacht Mehl mahlt, weil sie tagsüber nicht fertig geworden ist. Wagner ist „mit Mitleid überfüllt“, die Arbeitsgeräusche sind für ihn “wie Sphärenquietschen“.

Mit Blick auf die Bilder in der Halle – unterhalb der Galerie – sinniert Wagner über die Nacht, in der „Wotan die Erda bezwang“ … allein „unter dem Begriff des Göttlichen“ könne man sich den Reiz vorstellen, der darin liegt, „dieses wissende Weib zu bezwingen“, um Weisheit zu gewinnen … nur in der Tierwelt habe Wagner „ein solches Ausbrechen von Naturgewalt belauscht“. – Fast scheint es, als hätte Wagner den Eindruck, die gewonnene „Traulichkeit“ mit Haus und Cosima habe er einer solchen „Naturgewalt“ zu danken.

Mitten in der „Traulichkeit“ des neuen Hauses erinnert sich R. daran, dass es beim Aufstand in Dresden 1848 im Gegensatz zur aktuellen Kälte in Bayreuth im damaligen „Völkerfrühling“ die ganze Zeit „ununterbrochen schönes Wetter“ gegeben habe. Immerhin habe sich aus den damaligen Ereignissen „Deutschlands Einheit“ und die Konzeption des „Rings“ ergeben.

Die neue Rolle als großbürgerlicher Hausbesitzer bringt Wagner in einen Zwiespalt: Dekan und Bürgermeister kommen zu Besuch und freuen sich am Haus und den prominenten Bewohnern … Wagner räumt ein, dass er „noch nie so gut mit der Polizei gestanden“ habe und erkennt – obwohl er als Künstler nicht viel von ihr halte – die Pickelhaube „als die einzige Rettung“ … und trotzdem quält ihn das Gefühl des Unzulänglichen. Er träumt, dass Cosima eine „große Gesellschaft“ gibt und er in unpassender Kleidung keine Gelegenheit findet, sich umzuziehen (dass Cosima ihm im Traum den Vorwurf macht „Du liebst es ja so“ macht die Sache nicht besser). Oder er träumt, dass sich der Neufundländer Rus auf einer Reise plötzlich als Löwe entpuppt „und mit einem Arbeiter einen Abhang hinunterlief“. Cosima bemerkt „wie können wir aber auch ein solches Tier mitnehmen“ – und beide haben Sorge, ob sie „nach einem solchen Vorfall“ im Haus und in Bayreuth bleiben können.

Beim Nachmittagskaffee in der Halle, „die wirklich hallt“, wird R. – durch den Gesang der Kinder am Vortag von der Galerie herab – an seine Symphonie in C-Dur erinnert. Er bedauert, sie Cosima nicht zeigen zu können. Die handschriftliche Partitur hatte er Mendelssohn geschenkt; dieser habe sie „wahrscheinlich vernichtet“, Mendelssohn habe darin wohl „Anlagen“ erkannt, die ihm „unangenehm waren“.

Die neuen Lebensumstände tragen wohl auch dazu bei, dass es Wagner so vorkommt als würde er jetzt schon „nach seinem Tode“ leben; die ganze Welt ist ihm „wie erstorben“. Wenn er schon als Zeitgenosse von zweitrangigen „Berühmtheiten“ wie Gutzkow und Freytag leben müsse, dann sei Wahnfried wenigstens die „einsame Insel“, auf der er mit Cosima sein will.